Heiterkeit

Kleine Alltagsbegegnung im Supermarkt. Einkaufen gleich als erstes am Morgen. Leere Räume, vollgestellt mit dicht gepackten Regalen. Einkaufswagen schieben. Bewusstes Denken im Alltagsschlaf.

Dazu folgende Assoziation: ich sitze als Jugendlicher im abgedunkelten Filmraum meiner Schule, und zwar ganz in der Nähe des ratternden Projektors. Das  knallende Laufgeräusch der Filmspule löscht die dürre Sprecherstimme aus dem auf Anschlag gequälten Lautsprecher aus. Und scheint den Sprecher gleichzeitig irgendwie am Leben zu Halten. Vorne auf der Leinwand flimmert ein Lehrfilm über die Auswirkungen von Alkoholgenuss: gerade ganz konkret auf die Fahrtüchtigkeit.

Eine Straße ist im Bild, genauer eine schmale Allee mit dichtem, beidseitigen Baumbestand, wie man sie aus den Fernsehbildern von schlimmen Unfällen kennt. Hier allerdings ohne flackerndes Blaulicht,  ohne Kameralicht und bei Tag. An den Außenkanten einer nicht ganz sauber geputzten Windschutzscheibe fliegen die Baumreihen vorbei. Man sieht  den Straßenbelag nicht, die verbaute Kamera ist zu stark geneigt. Dafür sieht man idiotischerweise ein wild hin- und her schwenkendes Lenkrad. Zur Verdeutlichung des Tunnelblicks werden jetzt schwarze Balken über die vorbeifliegenden Bäume gelegt. Man sieht die Bäume nicht mehr: weiß aber ja von vorher, dass sie noch da sind. Alles was bleibt ist die schmutzige Windschutzscheibe.

Diese Erinnerung verknüpft sich, warum auch immer, während ich auf den Einkaufszettel starre und dabei die Regalreihen durch meine Kurzsichtigkeit rechts und links in den Hintergrund geblendet werden. Auch so eine Art Tunnelblick vielleicht.

So kurve ich dreimal um das gleiche Regal herum, ohne dabei einen einzigen Listengegenstand von meinem Zettel in eine konkrete Suche übertragen zu können. Eine freundliche Stimme kommt mir zu Hilfe: „Sie suchen bestimmt den Mais!“. Ja, Mais ist auch auf meinem Zettel. Aber gesucht habe ich hier gerade überhaupt nichts, denke ich, als ich mich umdrehe. Der Mann kann mich neugierig und offen anschauen und gleichzeitig wie ein Jongleur seine Dosen in das Regal sortieren. Wie er das da macht, das holt mich aus meiner stumpfen Alltagsträgheit heraus. Fingerfertigkeit, man sieht die Freude der Hände im Tun: der Mann vollzieht eine vielgeübte und von der Repetition eingeschliffene Bewegung, bei der die einzelnen Absetzpunkte der Dosen milimetergenau ineinander rasten. Ein bisschen verderbe ich das Ganze mit meinem Masken-Smalltalk. Sie können wohl Gedanken lesen. Sie sollten es mal mit den Lottozahlen versuchen. Aber selbst das bringt ihn nicht aus seinem Gleichgewicht, seine Zufriedenheit wiegt dafür zu schwer. Ach wissen Sie. Was soll ich denn mit Geld. Für viel Geld bin ich viel zu glücklich. Ich will nicht, dass sich mein Leben ändert. Das klingt vielleicht daher gesagt. Aber was diese Begegnung so behaltenswert macht, ist sein Blick dazu. Auf die Schnelle lässt sich das fast nicht runterschreiben. Vielleicht ein Substantiv: Heiterkeit. Mit einer Konnotation von Klarheit, Gelöstheit. Der Mann ist heiter.

Heiter
: ein schönes, kleines Wort, das uns die Wettervorhersage mit ihren wolkigen Aussichten verdorben hat. Und ein schöner Daseinszustand.

2 Kommentare

  • Das ist verdammt gut geschrieben!

    „Bewusstes Denken im Alltagsschlaf.“ – Das bringt auf den Punkt, wie ich mich selbst manchmal in solchen Situationen fühle. Die Verbindung zu der Schulsituation trifft einen Nerv bei mir und ich wette auch bei den meisten Vertretern einer Generation, deren höchster Multimediagenuss in der Schule aus solchen Vorführungen bestand.
    Der Schluss stimmt mich – heiter!

    Danke für die Worte! Sie wecken mich aus meinem Alltagsschlaf, und das ist eine gute Sache.

    Dirk Breden

  • Lieber Dirk,

    mehr kann ich mir für meine kleine Alltagsbegegnung nicht wünschen, als dass sie eine solche Begegnung mit einem Leser hat! Freut mich, dass die Zeilen bei Dir einen Nerv getroffen haben!

    Liebe Grüße
    Wolfgang Aistermann

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